Musikerinnenleben

Ohne Proben nach oben

Wie ist es, wenn man die Mitmusiker*innen erst auf der Bühne kennenlernt? Oder der Sänger spontan ein neues Lied singt? Und was steht auf dem Spickzettel?

„Ich habe am Wochenende wieder einen Auftritt in Telefonbesetzung“, erzählt mir eine befreundete Jazzerin. So nennt sie das, wenn sie einen Anruf bekommt, wann der Gig stattfindet, für den es aber keine Probe gibt. Sie weiß vorher nicht immer genau, wer noch mit ihr auf der Bühne steht. Als erfahrende Musikerin, die vermutlich alle Real Book Standards kennt, ist sie ganz entspannt.

Ich selbst habe schon die unterschiedlichsten Gigs hinter mir. Bei manchen ist alles bis ins Detail durchgeplant, jede einzelne Note steht vorher fest, sogar die Ansagen hat der Frontmann auswendig gelernt. Bei Sessionbands dagegen weiß man vorher eigentlich noch überhaupt nicht, was passieren wird. Und dazwischen gibt es alle erdenklichen Abstufungen.

Kennenlernen auf der Bühne

Am häufigsten springe ich bei Irish Folk Bands ein, bei denen vorher die Setliste und die Abläufe stehen. Ich bekomme meistens Noten oder Aufnahmen und kann mich vorbereiten. Bei meinem letzten Konzert dieser Art habe ich zwei meiner vier Mitmusiker erst auf der Bühne kennengelernt. Das passiert öfter. Ich finde es spannend, es ist eine Art Herausforderung, und mit Profis funktioniert es bisher immer gut. Das Publikum merkt in der Regel nicht, dass wir keine feste Kombo sind.

Beim Soundcheck vor dem Konzert spielen wir ein oder zwei Stücke an. Den Rest der Liste gehen wir einmal kurz in der Theorie durch. Ein bisschen Improvisation ist immer dabei, vor allem bei der Liedbegleitung. In den meisten Bands gibt es einen „Fels in der Brandung“, und es ist gut, vorher zu wissen, wer das ist. Denn an den kann man sich im Notfall dranhängen, er oder sie hat immer den Überblick und gibt oft auch Zeichen, zum Beispiel bei Wechseln von Tonarten oder Taktarten. „Ohne Proben nach oben“ Gigs sind für mich immer eine wahnsinnige Konzentrationsleistung, aber es ist auch eine Aufgabe, die mich über die Jahre viel routinierter gemacht hat.

Spickzettel: „Lala / Tune / Schlussgetüdel → langes G“

Bei einmaligen Gigs ohne Folgeaufträge lerne ich nicht alles auswendig, dafür wäre der Aufwand viel zu groß. Da stelle ich den Notenständer so weit nach unten, wie meine kurzsichtigen Augen es zulassen, um trotzdem Kontakt zum Publikum aufbauen zu können.

Ansonsten versuche ich, mit möglichst kleinen und unauffälligen Spickzetteln auszukommen. Die versteht in der Regel niemand außer mir, denn da stehen dann so schöne Sachen drauf wie „A B B + Schlussgetüdel / hip hip hooray“ oder „Intro onbeat, Gesang solo … f d f d e … Lala / Tune / Lala / 2x Tune“. Am besten gefällt mir das hier: „Refrain: irgendein Geschmiere auf der E-Saite“. Das habe ich gerade wiedergefunden, aber ich verrate nicht, für welche Band das war.

Das kennst du bestimmt!“

Einmal habe ich mit einer Irish Folk Band in einem Seniorenheim bei einem irischen Abend gespielt. Schon bald drifteten wir spontan zu Liedern wie „Auf der Reeperbahn nachts um halb 1“ ab, es kamen Musikwünsche, wir gaben Volkslieder zum besten, und am Ende hörte ich mich alte Schlager geigen. Dazu muss man wissen, dass das nicht meine Kernkompetenz ist. „Ganz Paris träumt von der Liebe“ und „Kein schöner Land“ kenne ich noch, aber dann hört es auch schon bald auf.

Mit verschiedenen Musikern aus Schleswig-Holstein hatte ich ein paar Mal ähnliche musikalische Grenzerfahrungen. Bei Konzerten, bei denen wir eigentlich eine feste Setliste hatten, meinten die jeweiligen Sänger spontan „Ach, komm, Lied xyz passt gerade so gut, das kennst du bestimmt!“ Und bevor ich laut „Nein, kenne ich nicht!“ schreien konnte, hörte ich schon den Gesang. „Hilfe!“, dachte ich dann, guckte vermutlich kurz panisch, dann verzweifelt grinsend, versuchte herauszufinden, in welcher Tonart wir uns denn überhaupt befinden und begann zu improvisieren.

„Lächeln und winken!“

Manchmal ging es gut, manchmal war es unangenehm peinlich, zumindest mir. „Die denken jetzt alle, wir hätten das geübt und dass ich einfach gar nichts kann“, befürchtete ich. „Wieso, ging doch alles gut“, hörte ich hinterher von den anderen. Oft sind meine Bandkollegen 10 oder 20 Jahre älter als ich und dementsprechend mit anderer Musik aufgewachsen als ich. In solchen Momenten finde ich es fies, dass mich die Herren so ins kalte Wasser schubsen. Im Nachhinein bin ich dankbar für die Erfahrung, denn ich bin dadurch heute viel abgebrühter und habe weniger Lampenfieber als noch vor 20 Jahren.

Ein befreundeter Bassist sagt zu solchen Situationen mit vollkommener Ahnungslosigkeit immer:„Lächeln und winken!“ – in Anlehnung an den Film „Madagaskar“. Daran muss ich inzwischen vor jedem Konzert denken. Einfach lächeln und winken.